Sahra Wagenknecht über das “Mutti”-Image der Kanzlerin: “Merkel hat eine große Fähigkeit zu verbergen, wie sie wirklich ist”

Sahra Wagenknecht, 48, Fraktionsvorsitzende der Linken, polarisiert: Im Gespräch mit Christopher Lesko erzählt sie von einer Kindheit ohne Vater, dem Antrieb, eine attraktivere Gesellschaft zu bauen, vom „Kampfmodus TV-Talk Shows“ und ihrem Weg in die Politik. Wagenknecht spricht über Brüsseler Lobbyismus, das „Mutti“-Image der Kanzlerin, die schlimmste Zeit ihres Lebens und über Liebe und Tod.

Von Christopher Lesko

Sahra Wagenknecht: Gäbe ich Ihnen innerhalb unseres zweistündigen Gespräches einen Joker für eine Frage, die Sie sich aussuchen könnten, welche Frage wäre das?

Ach, viele Fragen sind vorhersehbar, sicherlich werden Sie mich nach meinen politischen Inhalten fragen. Vielleicht, warum ich alles mache, was ich mache.

Das ‚Warum‘ interessiert mich weniger als das ‚Wozu‘. Das also wäre Ihr Joker?

Es ist zumindest eine Frage, die mir seltener gestellt wird. Es gibt ja auch langweilige Fragen, die mir gestellt werden.

Sagen Sie mal die langweiligste.

Die langweiligste ist sicherlich, warum ich meine Haare immer hochgesteckt trage und ob dies nach dem Vorbild von Rosa Luxemburg geschieht. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Leute mir diese Frage schon gestellt haben.

Und, antworten Sie darauf?

Ja, sicher. In der Regel sage ich, dass ich die Haare hochgesteckt trage, seit ich 16 bin und dass es praktisch ist, weil es morgens weniger Zeit braucht als sie aufwendig zu föhnen. Damals kannte ich Rosa Luxemburg noch kaum und habe schon gar nicht darüber nachgedacht, einmal Politikerin zu werden.

Nun haben wir immerhin schon über eine Frage gesprochen, die mich nicht interessiert und über die Sie nicht sprechen wollten. Haare, auf dem Kopf oder auf den Zähnen: Sahra Wagenknecht, können Sie mir sagen, wer genau hier vor mir sitzt?

Vor Ihnen sitzt jemand, der es unerträglich findet, sich mit den Verhältnissen abzufinden, wie sie heute sind. Jemand, der findet, die Menschen haben etwas Besseres verdient als diesen Raubtier-Kapitalismus.

Unterhalb der Ebene dieser Haltung: Was sind Sie denn für ein Mensch?

Ich bin jemand, der sehr gerne liest. Jemand, der sehr gerne die Natur genießt und viele Dinge macht, zu denen man in der Politik stets viel zu wenig Zeit hat.

Man kann Rollen und Haltungen gar nicht trennen von den Personen, die sie einnehmen. Mit Blick auf sich selbst: Sind Sie beispielsweise aggressiv oder ungerecht? Liebevoll? Humorvoll? Kämpferisch?

Das müssen andere beurteilen. Kaum jemand wird sich als angepasst und duckmäuserisch beschreiben. Leider sind das trotzdem viele. Die meisten Leute sind privat wahrscheinlich anders, als man sie öffentlich wahrnimmt. Talk Shows etwa sind nicht der Ort, an dem man liebevolle Bemerkungen austauscht, sondern eher ein Ort, an dem man sich im Kampfmodus befindet.

Liebevolle Bemerkungen? sprechen: Was ist denn das für Sie – Liebe?

Liebe ist Glück, Zweisamkeit. Ein Zuhause zu haben, das einen auffängt, egal wie es läuft. Das ist gerade in der Politik sehr wichtig. Persönlich ist das sogar wichtiger als jeder politische Erfolg.

Schön, wie Sie das sagen. Liebe entsteht für Sie also im sozialen Kontext.

Ja. Auf vielen Ebenen: Freunde zu haben, mit Menschen zusammen zu sein, mit denen man gerne zusammen ist. Das ist in der Politik ja nicht immer gegeben.

Wenn wir den Blick auf sich selbst fortsetzen: Sind Sie kreativ? Dynamisch?

Ach, heute wollen ja alle dynamisch sein. Ich gebe mir zumindest Mühe, immer wieder neue Gedanken zu entwickeln und nicht auf eingefahrenen Gleisen weiter zu gehen. Ich würde nie Meinungen vertreten, nur weil sie Mehrheitsmeinungen einer Partei oder der Gesellschaft sind. Das ist auch einer der Gründe, warum ich Bücher schreibe. Wenn man schreibt, muss man sich Mühe geben, zu verstehen und zu argumentieren und eben nicht Stereotype wiedergeben. Das ist auch einer der Gründe, warum ich immer gelesen habe.

Ich setze mich gerne mit Menschen auseinander, die fundiert argumentieren, auch wenn sie eine völlig andere Haltung haben als ich. Sich mit Dummköpfen auseinanderzusetzen, ist langweilig. Mit Menschen zu diskutieren, die klug sind und ganz andere Positionen vertreten, ist spannend: Das schärft die Fähigkeit zur eigenen Argumentation. Man sollte sich immer die Offenheit dafür bewahren, dem Gegenüber zuzugestehen, in dem einen oder anderen Punkt Recht zu haben. Ich bemühe mich darum.

Aus dem Bündel möglicher Schwächen: Welche ist Ihre aktuell relativ größte?

Vielleicht, dass ich dieses in der Politik so wichtige Netzwerken zu wenig kann. Es gibt grob gesagt zwei Typen von Politikern: Der eine ist dadurch erfolgreich, dass er sich eine Macht-Basis aufbaut. Beispiele wären hier Helmut Kohl und auch Angela Merkel. Andere bauen stärker auf ihre öffentliche Wirkung. Das liegt mir mehr. Ich habe mich fast immer nur auf den zweiten Weg verlassen. Das ist sicherlich auch eine Schwäche, weil ich mich zu wenig um Mitstreiter kümmere. Natürlich hat das auch mit Zeit-Kapazitäten zu tun.

Nein, mit Zeit-Kapazitäten hat das nichts zu tun.

Doch, doch. Auch.

Lassen Sie uns streiten: Entweder haben Sie auf qualitativer Ebene eine Schwäche oder nicht. Der Umgang mit Zeit als Phänomen der quantitativen Ebene gilt nicht als Begründung für Schwächen: Umgang mit Zeit ist eine Frage der Priorisierung von Zeit.

Zeit hat natürlich auch mit Priorität zu tun. Zeitmangel bleibt aber trotzdem ein Problem in der Politik.

Gut, nun haben Sie es hingebogen. Irgendwie. Ich sähe eine mögliche Schwäche, übrigens.

Mmmh..

In Ihren Auftritten fehlt mir Warmherzigkeit.

Die üblichen Talk-Shows sind so konzipiert, dass man Kontrahenten gegenüber sitzt, mit denen man streitet. Manchmal sind die Angriffe derart, dass es schwierig ist nicht auszurasten. Es ist deshalb notwendig, kontrolliert zu sein. Mir geht es nicht darum, mich als besonders emotionsgeladen zu inszenieren, wie das manche Politiker machen. Im Privaten bin ich anders.

Wer inszeniert sich denn vordergründig deutlich mehr als sie?

Ich bin jedenfalls niemand, der in der Öffentlichkeit auf Emotionsausbrüche setzt. Das kann ich nicht, und ich will es auch nicht. Aber das muss jeder selbst entscheiden.

Wo und wie ging denn Ihr Leben los?

Ich bin 1969 in Jena geboren. Meine Mutter lebte und studierte in Berlin und konnte ihr Kind nicht ständig bei sich haben. Ich verweigerte mich Krippe und Kita jedoch so lange, bis ich bei meinen Großeltern in Jena bleiben konnte. Dort blieb ich bis zum Schulanfang. Ich hatte junge Großeltern: Meine Großmutter war 39, als ich geboren wurde, heutzutage werden da viele noch Mutter.

Was war denn mit Ihrem Vater?

Der ging in den Iran zurück, als ich drei Jahre alt war. Er lebte in West-Berlin, was ohnehin damals schwierig war. Er konnte nach Ost-Berlin, musste aber nachts immer wieder zurück sein. Als ich drei war, hatte er sein Studium abgeschlossen, wurde zum Militärdienst eingezogen und musste zurück in den Iran.

Ich blieb bis zur Einschulung mit sieben Jahren bei meinen Großeltern und wuchs behütet in einem Dorf bei Jena auf. Ich hatte meinen kleinen Garten, meinen Sandkasten und eigentlich alles, was ein Kind braucht, um glücklich zu sein.

 

Von einem Vater abgesehen. Danach zogen Sie nach Berlin?

Ja, ich zog zu meiner Mutter in den Prenzlauer Berg. Damals war Prenzlauer Berg anders als heute: nicht das hippe Wohnviertel, sondern ein ziemlich grauer Bezirk. Ein Schock für mich: Ich hatte mir wegen des Namens Prenzlauer Berg so etwas wie die Thüringer Berge vorgestellt und landete statt dessen in einer Wohnung in der 4. Etage mit Ofenheizung und Außenklo. Ich habe mich dort nie besonders wohl gefühlt.

Als ich in der 3. Klasse war, zogen wir nach Marzahn. Die Wohnung war im Vergleich mit der vorherigen fast ein Luxus. Ich fühlte mich trotzdem noch weniger wohl: Im Prenzlauer Berg war ich mit meinen Mitschülern, von denen viele aus sozial schwierigen Verhältnissen stammten, viel besser klar gekommen als später in Marzahn, wo die eher Besser-Gestellten wohnten, ich bin da nicht warm geworden.

Von den Großeltern zur Mutter zu ziehen, war das ein harter Cut für Sie?

Sie hatte mich ja immer schon besucht. Klar, die Großeltern verwöhnten mich, und es war eine Umstellung. In den Ferien habe ich auch später noch häufig Zeit mit meinen Großeltern verbracht.

Was waren Sie denn für ein Kind, damals in der Prenzelberger und Marzahner Zeit?

Ein eigenständiges. Man kann auch sagen: ein eigenwilliges. Ich lernte mit vier Jahren bereits Lesen und ein wenig Rechnen und beschäftigte mich viel mit mir selbst. So gesehen, war ich auch ein pflegeleichtes Kind. Als ich lesen konnte, musste man mir nur die Chance auf neue Bücher geben. Dann war ich zufrieden.

Später entwickelte ich ein wirkliches Faible für Mathematik. Kennen Sie die magischen Quadrate? Mit solchen Themen konnte ich mich stundenlang begeistert beschäftigen.

Und die kleine Sahra Wagenknecht, zwischen magischen Quadraten und Büchern: Hatte sie viele Freunde während ihrer Schulzeit?

Ich kam mit den meisten Schülern ganz gut klar, aber ich war nie der Gruppenmensch, der mit anderen rumzog – von einer kurzen Phase abgesehen, als ich 13 war. Ein Jahr lang ging ich in Diskotheken, machte erste Erfahrungen mit Alkohol und zog mit Freunden umher. Vorher war ich überwiegend nur für mich. Ich ging ja auch in keinen Hort.

Was war denn Ihre Mutter damals für eine Frau?

Sie tat alles dafür, mich zu fördern und mir eine gute Mutter zu sein. Ich glaube, sie hatte es immer bereut, mich innerhalb der ersten sechs Jahre nur besuchsweise zu sehen. Aber sie hatte keine Möglichkeit, das anders zu machen.

Hat Ihnen denn Ihr Vater gefehlt?

Ja, als er ging, war das für mich ein großer Verlust.

Dass der Vater plötzlich aus dem Leben verschwindet, kann kein Kind diesen Alters verstehen.

Sie haben mir damals gesagt, er wäre zur Armee eingezogen worden. Dass Väter zur Armee eingezogen wurden, war ja für DDR-Kinder ein normaler Vorgang. Meine Großeltern und meine Mutter hatten wahrscheinlich damit gerechnet, dass ich nicht weiter darüber nachdenken würde. Habe ich aber. Und deshalb rechnete ich fest damit, dass er wie die anderen Väter auch wiederkommen würde. Also begann ich, nach etwa zwei Jahren immer wieder nach ihm zu fragen. Irgendwann habe ich dann verstanden, dass er nicht zurückkehren wird und meine Mutter den Kontakt zu ihm verloren hatte.

Traurig. Rationale Begründungen decken emotionale Defizite nie – auch nicht, wenn sie gut sind. Sie waren wahrscheinlich eine gute Schülerin, oder?

Stimmt. Mir ist die Schule auch relativ leicht gefallen. Nur in Sport war ich nicht gut. Mir fehlte damals der Ehrgeiz, mich anzustrengen, um mich zu verbessern. Mit 18 machte ich dann Abi.

In der Zeit bis zu Ihrem 18. Lebensjahr: Was war das als Jugendliche für ein Lebensgefühl, damals in der DDR? Was war im Paket?

Die DDR war meine Lebenswelt, ich habe mir als Kind und Jugendliche darüber keine besonderen Gedanken gemacht. Ich war wie jeder bei den Pionieren, fand es aber eher nervend und hatte auch keine Funktionen. Bei der FDJ war das ähnlich. Mit 16 begann ich dann, mich mit gesellschaftlichen Fragen zu befassen: Ich las Goethe, die klassischen Philosophen und begann, mich mit Marx ebenso wie Rosa Luxemburg zu beschäftigen. Durch diese Lektüre habe ich dann mit etwa 17 begonnen, mich als Sozialistin zu verstehen.

Damals fing ich auch an, mir Gedanken darüber zu machen, warum die DDR so war, wie sie war und eben nicht so, wie die Klassiker sich eine sozialistische Gesellschaft vorgestellt hatten. Das habe ich dann auch kritisch geäußert. Mich störte zum Beispiel sehr die mangelnde Akzeptanz von Individualität. Wer ins Schema passte, hatte alles leichter. Wer nicht, bekam Probleme. Auch ich bekam Probleme.

Welche denn?

In der 11. Klasse gab es einen verpflichtenden Aufenthalt im sogenannten Zivilverteidigungslager, eine Art Militärlager. Da mussten alle hin, auch Mädchen. Für mich war das die Hölle: Man musste Uniform tragen, im Gleichschritt marschieren und wurde seiner ganzen Privatsphäre beraubt. Man schlief mit mehreren Mädchen in einem Zimmer. Das alles war für mich eine Qual.

Ich erwies mich als widerspenstig und bekam eine schlechte Beurteilung: Ich sei nicht fähig fürs Kollektiv. Deshalb bekam ich trotz guter Leistungen später keinen Studienplatz. Als Begründung hieß es, ich solle erst einmal lernen, mich in ein Arbeits-Kollektiv einzufügen und eine Stelle als Sekretärin in der Universitäts-Verwaltung antreten. Ich will Sekretärinnen überhaupt nicht abwerten: Viele machen eine Super-Arbeit. Ich wollte aber nicht zu Schreibmaschinen-Kursen gezwungen werden, sondern Philosophie studieren. Ich las Hegel und Kant und hatte das Gefühl, mir liefe Lebenszeit weg, wenn ich Dinge täte, die ich nicht tun wollte und die mich überhaupt nicht forderten. Deswegen kündigte ich diese Arbeit nach drei Monaten wieder.

Danach war ich natürlich völlig raus und hätte in der DDR nur noch schwer eine Möglichkeit gehabt zu studieren.

Haben Sie damals als Sekretärin ordentlich Schreibmaschine gelernt?

Ja, ich habe einen Kurs gemacht. Richtig mit zwölf Fingern.

Zwölf? Fingertechnisch die Luxusklasse.

(Lachend): Zehn Fingern. Mit allen zehn. Das ist ja zunächst mal langsamer als mit zwei Fingern. Tempo gewinnt man, je mehr man es übt. Ich habe das später nie wieder genutzt und schreibe auch heute noch am Computer mit zwei Fingern.

Sie hatten ja sicher schon eine eigene Wohnung. Was dann? Sekretärin wollten sie nicht sein, Studentin durften sie nicht werden.

Ich hatte schon eine eigene Wohnung und hielt mich mit Nachhilfe in Mathe und Russisch über Wasser. Ich hatte schon in der Schule Mitschülern Nachhilfe gegeben, damals aber nicht für Geld. Später bekam ich etwa 20 Mark für 1,5 Stunden. Das ging, die Miete für meine Wohnung kostete 40 Mark. Ich kam über die Runden.

Ihre Impulse gingen in Richtung der Philosophie. Gehen wir mal davon aus, dass dies keine zufällige Wahl war, dass die Auseinandersetzung mit Fragen, deren Antworten Ihr damaliger Alltag nicht bieten konnte, Teil ihres Zuganges zur Philosophie gewesen sein mochte: Welche Fragen waren das denn, die Philosophie für Sie so interessant werden ließen?

Die Grundfragen: Wie kann Gesellschaft funktionieren? Wie gehen Menschen miteinander um? Was ist eigentlich der ganze Sinn unseres Wirkens, unseres Tuns? Der Sinn des Lebens? Nach dem Sinn des Lebens fragen wahrscheinlich viele mit 16, 17 das erste Mal. Dann auch Fragen der Erkenntnis: Erkennen wir die Welt? Was genau erkennen wir überhaupt? Ist, was wir erkennen, Wahrheit oder ein verzerrtes Abbild? Gibt es überhaupt Wirklichkeit hinter dem, was wir wahrnehmen?

Und, als kleiner Vorgriff auf Ihre bis heute folgenden Jahre: Haben Sie inzwischen ansatzweise eine Antwort auf eine dieser Fragen finden können?

Ich denke schon. Beispielsweise, dass wir gesellschaftliche Vorgänge, auch Vorgänge in der Natur wahrnehmen, aber immer gefiltert durch Erfahrungen und Erkenntnisse, die wir schon haben. Nicht ganz so stark, wie Kant es annimmt, der sagt, wir konstruierten die Welt. Aber schon im Sinne von Hegels objektiver Idee, die allerdings letztlich von unserem Entwicklungsstand abhängt.

Was wurde aus der Frage, ob Leben einen Sinn hat?

Im Gegensatz zu heute war für mich der Sinn des Lebens damals nicht mit der Frage nach der persönlichen Haltung verknüpft, sondern ich erhoffte mir stärker einen naturwissenschaftlichen Ansatz, eine objektive Antwort.

Inzwischen sehe ich die Frage nach dem Sinn des Lebens viel eher als eine Haltungsfrage an. Es gibt weder objektiven Sinn noch objektive Vernunft. Letztlich muss man sich entscheiden: Will man sein Leben dazu nutzen, sich auch für andere einzusetzen. Oder sagt man: Hauptsache, es geht mir gut, der Rest ist mir egal. Oft wird so getan, als sei das eine dummes Gutmenschentum und das andere der Weg zum Erfolg. Das teile ich nicht. Es geht um eine Entscheidung zwischen Zynismus und Redlichkeit, um eine grundsätzliche Haltung. Es geht nicht um eine naturwissenschaftliche Entscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum, sondern um eine moralische Bewertung.

Ich halte den Begriff der Objektivität für eine Illusion. Objektivität existiert nicht, sie ist eine zugunsten von Interessen, Haltungen oder Strategien funktionalisierte Worthülse. Kein Sachkontext ist trennbar von den Personen, die ihn vertreten oder kommunizieren. Und damit ist er stets auch subjektiv oder inter-subjektiv.

Ja, interessante Frage: Was ist objektiv? Gibt es etwas hinter unserer Wahrnehmung, das wir erst allmählich erkennen müssen, oder konstruieren wir Teile der Objektivität? Ich glaube, mit jeder Wahrnehmung prägen wir dem Wahrgenommenen unsere Muster auf. Für die Politik nicht unwichtig: Rede ich öffentlich, spreche ich ja nicht in leere Schablonen hinein.

Je nachdem, wer im Auditorium sitzt.

Ich weiß heute, dass alles, was ich sage, auf die vorgefassten Meinungen der Zuhörer trifft, die nach diesen bewerten , was sie von mir halten oder auch nicht halten, ob sie meinen Argumenten folgen oder nicht. Als Jugendliche hatte ich noch den Eindruck: Hat man Recht, muss man sich auch stets durchsetzen können.

Dass Sie diese Fragen damals so stellen mussten, ist ja Zeichen dafür, dass es für Sie ein Defizit an Antworten gab.

Ja, es gab eigentlich gar keine Antworten. Es gab die offizielle Staats-Ideologie: Die DDR war gut, der Westen war schlecht. Wer sich für die DDR engagierte, stand für die gute Sache und den Weltfrieden. Diese Verkürzung hat mich nie befriedigt.

Unterhalb der Ebene Ihres logischen Zuganges gibt es ja Menschen, die sich deshalb die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht stellen, weil sie spüren, dass Leben Sinn ist. Menschen mit einer selbstverständlichen, tiefen Zufriedenheit. Menschen, die fragloser sind, weil sie in sich Antwort spüren.

Vielleicht. Ich hatte immer das Bestreben, etwas bewegen zu wollen. Ich wollte nicht einfach vor mich hin leben. Ich hatte das Gefühl, man müsse Marx‘ Theorie im Sinne Hegels weiterdenken und ein neues System bauen. Aber eben nicht im Sinne eines totalen Systems, das jede Frage beantworten kann. Das war mein Antrieb, und das waren die Themen, mit denen ich mich beschäftigen und über die ich schreiben wollte.

Fanden Sie denn später im Studium Menschen, die die Welt ähnlich sahen?

Als ich endlich 1990 mit dem Studium beginnen durfte, war es eine Befreiung, überhaupt mit Menschen kommunizieren zu können. Ich hatte vorher niemanden, mit dem ich mich wirklich austauschen konnte. Ich saß in der DDR alleine zuhause und las: Aristoteles, Platon, Descartes bis zur klassischen Philosophie. Die Uni war für mich ein großer Segen: Ich durfte schnell Seminare geben, weil die Professoren merkten, dass ich anderen etwas beibringen konnte. Das war großartig.

Bis zur Zeit der Wende….. – nennen Sie das eigentlich Wende?

Ja, das war ja eine Wende.

Also vorher: Gabe es eigentlich jemanden, der cool war in der DDR?

Von den Offiziellen in der DDR hatte keiner Popstar-Qualitäten.

Den Dichter Peter Hacks habe ich sehr verehrt. Ich hatte alle seine Werke gelesen, und er war auch einer der wenigen Gesprächspartner, die ich hatte.

Sie waren also ein wenig verloren dort?

Ich habe mich nicht verloren gefühlt: Ich war ja gewohnt, viel alleine und auf mich gestellt zu sein.

Nicht jeder Verlorene muss sich auch verloren fühlen, wenn er angemessen desensibilisiert ist und ‚hinkommen‘ muss. Wie haben Sie damals innerlich die Wende kommentiert?

Sehr zwiegespalten. Ich war ja zuhause und hoffte einerseits, doch noch an die Uni zu können. Andererseits hoffte ich damals, dass die DDR sich reformiert: Ich wollte, dass ein attraktiver Sozialismus entsteht, der Menschen anzieht und sie nicht einmauern muss. Als die DDR dann einfach zerbröckelte, zeichnete sich schnell ab, dass von ihr nichts übrig bleiben würde. Das hatte ich mir so nicht gewünscht.

Waren Sie denn an den Straßen-Demos, an der sich ausbreitenden Stimmung gegen die alte DDR und ihre Beschränkungen beteiligt?

Ja, zunächst einmal ging man im Herbst 89 mit dem Wunsch auf die Straße: Wir wollen eine bessere DDR, einen besseren Sozialismus. Im Nachhinein ist das vergessen worden. Es kippte und dann kamen Helmut Kohl, Maueröffnung und Deutschlandfahnen. Man sah durch die Maueröffnung, was man mit der D-Mark alles kaufen konnte, aber man hatte keine D-Mark. So wuchs der Druck: Wir wollen die D-Mark, und wir wollen die Vereinigung. Mehr die D-Mark als die Vereinigung, was ich menschlich auch verständlich finde: Man sah die vollen Kaufhäuser und wollte teilhaben. Ursprünglich idealistische Motive verschwanden dahinter, und es waren später auch andere Leute, die in der DDR auf die Straße gingen.

Kaufhäuser oder die D-Mark waren ja Träger eines ganzen Bündels an Motiven und Hoffnungen als Befreiung aus gefühlten Einschränkungen: Ich glaube nicht, dass dies letztlich so trennscharf unterschieden werden kann.

Ich sage das wirklich ohne Abwertung: Meines Erachtens dominierten damals mehr und mehr materielle Motive. Was man alles mit der D-Mark kaufen konnte, wurde trotz Werbung ja erst nach der Öffnung wirklich bewusst. In den Westen zu fahren, aber gar nichts kaufen zu können, war schon eine spezielle Erfahrung, die materiellen Motiven einen Schub gab.

Was war denn das Erste, das Sie cool fanden und sich kauften?

Das erste Mal bin ich nach West-Berlin gefahren, um in eine Bibliothek zu gehen. Ich hatte ja zunächst auch keine D-Mark. Als ich sie dann hatte, kaufte ich Bücher von Hegel, die es in der DDR nicht gab. Er stand nicht auf dem DDR-Index, aber man bekam nur wenig von ihm.

An diesen ersten Moment eines Kaufes mit Westmark erinnern Sie sich noch, oder?

Ja, das waren diese Hegel-Suhrkamp-Bändchen. Und dann kaufte ich ein Paperback der Weimarer Ausgabe von Goethe. Die war teuer, aber ich hatte etwas gespart, mir den Rest dazu geborgt und bezahlte sogar noch mit DDR-Geld zum 1:1-Kurs. Ein Angebot damals. Das war mein letzter Kauf mit DDR-Mark.

Sie wohnten immer noch in Marzahn?

Nein, in Karlshorst, bis heute in der 40-Mark-Wohnung, die inzwischen keine Kohleheizung, sondern eine Gasheizung hat und auch nicht mehr 40 Mark kostet.

Die kostet jetzt 41. Hat Ihre Mutter die Veränderung durch die Wende anders erlebt als Sie?

Sie war nicht so politisch und auch nicht per se gegen die DDR, aber sie machte sich Sorgen wegen der Entwicklungen. Niemand wusste ja damals, ob alles friedlich bleiben würde. In Rumänien lief das ja ganz anders. Meine Mutter fand relativ schnell eine Arbeit in einer Galerie, die sehr erfüllend war und erlebte nicht jenen Absturz, der viele ehemalige DDR-Bürger mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes so aus ihren Bahnen warf, dass sie nie wieder irgendwo hineinkamen.

Haben Sie nach der Wende schnell Freunde finden können?

Ich habe ja überhaupt erst nach der Wende einen Freundeskreis aufgebaut, als ich in die Politik ging. Als ich vorher lange alleine zuhause war, hatte ich so gut wie keinen Kontakt, meine ehemaligen Mitschüler waren im Studium und weit von mir entfernt.

Wir waren ja schon an diesem Punkt, ich will Ihnen das noch einmal sagen: Sie beschreiben diese Zeit kontrolliert in Kausal-Zusammenhängen, als würden sie über eine Dritte sprechen. Ich höre, was Sie sagen, sehe Sie zwischen Büchern damals, aber ich finde es traurig und verloren.

Diese Zeit, in der ich alleine zuhause war, waren die schlimmsten Jahre, die ich jemals hatte. Ich wusste nicht, wie es weitergeht. Ich wollte diese Gedanken nicht an mich heranlassen und machte mir jeden Tag einen Tagesplan, las von morgens bis abends. Das war natürlich ein Akt der Verzweiflung.

Mein Antrieb war es ja, eine attraktivere Gesellschaft zu schaffen, das ging natürlich aus einem Wohnzimmer heraus nicht. Gegen Ende dieser Zeit las ich Dr. Faustus von Thomas Mann, in dem die Hauptfigur am Ende dem Wahnsinn verfällt. Ich hatte tatsächlich Sorge: Wenn Du das noch zehn Jahre so weiter machen musst, bist Du auch reif. Es waren einsame anderthalb Jahre

Also: Wende, Studium und der Wunsch, eine bessere Gesellschaft zu gestalten.

Ich begann, mich zu engagieren und kandidierte in der PDS für den Parteivorstand.

Man gönnt sich ja sonst nichts. Das klingt irgendwie zügig.

Man kann das nicht mit der heutigen Zeit vergleichen: Die alten Eliten hatten die Partei verlassen, die PDS als Partei völlig im Umbruch brauchte neue Leute. Damals kam man ohne die Ochsentour von unten nach oben: Ich hatte Ende 1991 auf dem Parteitag in Berlin eine Rede gehalten und wurde dann in den Vorstand gewählt. (Lachend): Das wäre heute vielleicht nicht mehr ganz so leicht möglich. Ich erinnere mich gut daran: Ich hatte zwar gedacht, ich müsse das mal probieren, aber ich hatte nie damit gerechnet, in diesen, damals noch kleinen, Parteivorstand gewählt zu werden.

Alternativ zur PDS hätten Sie auch andere Andockpunkte wählen können, um für eine attraktivere Gesellschaft zu arbeiten.

Ich wollte eine linke Partei. Mein Empfinden war, alle anderen Parteien waren angepasst und wollten nur das System erhalten. Ich wollte jenen Kapitalismus überwinden, der gerade erst gesiegt hatte.

Aus damaliger Sicht: Was genau am Kapitalismus war denn lausig für Sie?

Die soziale Frage, wie heute auch. Das Gefühl der Entfremdung. Für andere und nicht im geringsten selbstbestimmt zu arbeiten. Das Krisenhafte des Kapitalismus, das Eruptive, das Menschen immer wieder an den Rand drängt und ihrer sozialen Existenz beraubt, kollidierte mit meiner Vorstellung einer gerechten Gesellschaft.

Viele verloren nach der Wende im Osten ihre Existenz. Später hatte ich mehr und mehr Kontakte in die alten Bundesländer, und auch dort geschah es, wenn auch nicht in der heutigen Dramatik: Es gab noch kein Hartz IV, und die Renten waren einigermaßen sicher. Aber, es gab eine große Kluft zwischen einer Oberschicht mit ererbten Reichtümern und einer großen Mehrzahl, die Tag für Tag arbeiten gingen, dennoch von der Hand in den Mund leben mussten und nicht hatten, was sie zu einem guten Leben brauchten.

Wenn Sie sozialistischen Gegenmodelle weltweit historisch betrachten, um sie auf ihre Wettbewerbsfähigkeit und Erfolg spätkapitalistischen Modellen gegenüber prüfen: Wie lautet Ihre Bilanz?

Es gab bislang kein erfolgreiches Modell. Es gab das osteuropäische, von der Sowjetunion geprägte: Es entstand ohne demokratische Tradition. Es konnte also nie so etwas wie eine sozialistische Demokratie entstehen. Es gab einige Reformversuche in der DDR der Sechziger Jahre: Planungen sollten auf Grundprozesse reduziert und stärkere Leistungsanreize gesetzt werden. Man wollte mehr auf Wettbewerb setzen. Das alles wurde Anfang der Siebziger abgebrochen. Natürlich gab es Chancen, die abgewürgt wurden, etwa Allende in Chile als demokratisch gewählter Präsident, der Reformen wollte.

Ich ziehe meine Vorstellungen und Ansätze nicht aus der Vergangenheit: Da gibt es nichts. Gar nichts, sonst wäre es ja vielleicht noch da. Es war auch nie so, dass ich die DDR wiederhaben wollte.

Sie waren also plötzlich im Vorstand der PDS und studierten.

Ja, eine ehrenamtliche Funktion neben dem Studium. Ich bekam BAFöG, stand auf eigenen Füßen, und das wollte ich auch. Ich habe damals nie versucht, parlamentarisch zu kandidieren: Ich hatte Angst, Berufspolitikerin zu werden und die Hoheit über meine Zeit und meine Prioritäten zu verlieren. Und ich wollte mich auch nicht verbiegen müssen.

Ich war zunächst bis 1996 im Vorstand, wurde noch einmal ab 2000 gewählt. Die erste hauptamtliche Funktion, in der ich eine Art Berufspolitikerin wurde, kam 2004: Ich ließ mich überzeugen, für das Europaparlament zu kandidieren. Die PDS war aus dem Bundestag geflogen, ich wurde gebeten, für Europa zu kandidieren: Die Chancen standen 50:50, dass wir die damalige 5%-Hürde schaffen konnten. Damals warf ich eine innere Münze und kandidierte: Schafften wir die 5%-Hürde, wäre ich halt Berufspolitikerin. Schafften wir die Hürde nicht, wäre es für mich der letzte Versuch gewesen. Ich war damals gerade noch jung genug, alternativ eine Universitätslaufbahn anzustreben. Ich hatte einen erheblichen Teil meiner Promotion in Volkswirtschaft bereits fertig und lebte im Wesentlichen schon von meinen Büchern, Vorträgen und Publikationen als Publizistin.

Ein Privatleben gab es doch bis 2004? Hoffentlich. Waren denn Partner, Ehemänner oder Freunde im Portfolio, mit denen sie Familienplanungs-Ideen bewegten?

Ich habe 1997 geheiratet.

Gerne?

(Lachend) Natürlich gerne.

So ganz klein mag die Zahl jener nicht sein, die bis zur eigenen Unkenntlichkeit verheiratet sind. Die Ehe hat nicht gehalten?

Wir haben mit der Zeit festgestellt, dass es doch nicht völlig gepasst hatte.

Haben Sie denn zusammen gelebt?

Nie so ganz: Mein Mann lebte überwiegend in Irland, ich in Berlin, was für eine Familiengründung schwierig ist. Außerdem lebte ich hauptsächlich von Honoraren für Lesungen und war viel unterwegs. Ich hatte unsichere Einkünfte und wusste nie, wie es in zwei Monaten sein würde.

Im damaligen Bild Ihrer inneren Wahrnehmung von sich selbst: Hätte es da in Ihnen einen Raum gegeben, in dem Sahra Wagenknecht als Mutter mit Kind in einem gemeinsamen Zuhause einer Familie vorstellbar war?

Ich wollte das immer. Aber ich dachte, ich habe noch so viel Zeit.

Was hat denn zur Trennung geführt?

Wir haben noch heute ein loses Verhältnis und sind im Guten auseinander gegangen. Wir haben halt doch nicht so gut zusammengepasst: Jeder hatte im Grunde genommen eher sein eigenes Leben.

Das Maß an Bindung war in Summe zu gering.

Es gibt ja Ehen, in denen man nicht zusammen wohnt und dann sehr glücklich ist, wenn man sich sieht, und so war das anfangs auch. Das hielt nicht. Wir waren oft wochenlang getrennt. So kann man auf Dauer keine wirklich gute Beziehung lebendig halten. Nähe und Bindung funktionieren so nicht.

Nähe muss man auch ertragen können.

Auch heute ist es ja so, dass ich viel unterwegs bin und in Berlin arbeite. Aber ich nutze jede freie Minute, um im Saarland zu sein.

Deutschland hat ja über Jahrzehnte immer wieder kontroverse Diskussionen über den Stellenwert des historischen Erbes unfassbarer Grausamkeiten des Dritten Reiches geführt: Wie genau trägt man, Jahre später geboren, Geschichte im Gepäck, ohne je persönlich verantwortlich gewesen zu sein? Als PDS-Abgeordnete, nun im Europaparlament, trugen Sie die Geschichte einer SED, die Geschichte dessen, was ich Diktatur nenne, ebenso. Welche Bedeutung hat das für Sie?

Ich war in der DDR-Zeit nicht in der SED. Ich trat spät noch ein, weil ich merkte, es bröckelt, und ich wollte ja die DDR verändern. Ich kam witzigerweise in die Rentnergruppe. Die SED war über Betriebsgruppen organisiert, aber ich war in keinem Betrieb sondern zuhause. Die Rentner waren damals die Idealisten.

Die, mit denen ich immer und schon in der Schule Probleme hatte, waren die angepassten 150% igen Opportunisten und Karrieristen: Man kann nur dann 150%ig sein, wenn man selbst nicht überzeugt ist. Davon gab es jede Menge in der SED, allerdings traten die in Scharen 1990 aus der SED aus.

Mich hat immer geärgert, dass uns alles, was in der DDR schlecht war, angelastet wird. Ich habe mit Sicherheit in der DDR einen deutlich widerständigeren Lebensweg gehabt als die Bundeskanzlerin. SED-Nähe hatten alle DDR-Parteien – es waren alles kleine SED’s. Die damalige CDU und die LDPD waren besonders eifrig und mit ihnen alle, die nach der Wende in Parteien der alten Bundesländer gut aufgenommen wurden. Ich wollte nie die damalige Versteinerung der DDR. Mich in diese Tradition stellen zu wollen, hat mich sehr geärgert, und es hat auch geschmerzt. Hätte es eine andere Partei gegeben, die links war und meiner Hoffnung auf einen attraktiven Sozialismus ein Zuhause hätte geben können, wäre ich vielleicht dort eingetreten. Aber die PDS war alternativlos für mich. DIE LINKE wurde ja erst viel später gegründet.

Ist denn aus Ihrer Sicht retrospektiv die Auseinandersetzung der Partei mit ihren Vorläufer-Organisationen und der eigenen Geschichte öffentlich auf einem Niveau von Offenheit und Klarheit geführt worden, das Ihren Vorstellungen entsprach? Oder gibt es blinde Flecken?

Anfangs war manches sehr eilfertig. Man platzierte vieles, weil man wusste, man muss das tun und nicht aus einer Überzeugung heraus. Da war vieles eine erneute Anpassung an den neuen Mainstream, ohne wirkliche Auseinandersetzung. Auch ich habe anfangs Zeug erzählt, von dem ich heute sage: Das war völliger Unsinn. Allerdings nicht aus Anpassung an den Mainstream, sondern aus Trotz gegen ihn.

Sagen Sie mal ein Beispiel.

Es gibt irgendwo noch Artikel, in denen ich die Mauer rechtfertige.

Echt?

Natürlich war mir klar, dass die Mauer ein großes Unrecht war. Aber mich hat geärgert, dass alle Faktoren ausgeblendet wurden, die zum Mauerbau geführt haben. Deshalb habe ich Dinge verteidigt, obwohl sie mit meiner Haltung überhaupt nicht übereingestimmt haben. Das war natürlich Unsinn.

Natürlich müssen wir uns klar mit der Geschichte auseinandersetzen und Negatives unmissverständlich kritisieren. Aber wir müssen dem Sog in der Politik widerstehen, sich willfährig dem Zeitgeist anzupassen. Wir müssen uns als Sozialisten mit der Geschichte auseinandersetzen.

Trotz also. Man könnte übrigens prüfen, was an Auseinandersetzung mit Geschichte noch offen ist. Wir schreiben 2004, Sie wohnen in Karlshorst und sind plötzlich Europäerin. Wie sind Sie denn in Europa angekommen?

Es war eine riesige Umstellung. Jede Woche nach Brüssel, einmal im Monat eine Woche Straßburg. Ich hatte erstmalig in meinem Leben plötzlich Mitarbeiter. Plötzlich war ich Chefin, musste mich kümmern, verstehen, wie ein Büro läuft und in einer Fraktion arbeiten, auch wenn die im Europaparlament Individualismus-freundlich ist. Da macht jeder, was er will. Fraktionsdisziplin in deutschem Sinne gibt es dort nicht.

Was schnell frustrierte, war: Was man dort tut, interessiert niemanden. Und es bewegt auch kaum etwas. Das hat mich ernüchtert. Ich war ja nicht in der Politik, um ein hohes Einkommen zu haben, ich wollte etwas bewegen. Die Diäten dort sind ähnlich wie im Bundestag, aber es gibt viele ganz legale Möglichkeiten, darüber hinaus Geld einzustreichen. Dass dieses Parlament so weit weg von der Öffentlichkeit arbeitet, hat dazu geführt, dass man sich jede Menge Bezüge organisiert hat, mit denen sich das Einkommen legal maximieren lässt. Das wäre im Bundestag so nicht denkbar.

Immerhin arbeitete man an europäischen Normen der erlaubten Krümmung von Bananen.

Wir sind ja auch in Deutschland in der Opposition und machen keine Gesetze. Aber, wir können in Redebeiträgen und Vorschlägen sichtbar Opposition betreiben und werden wahrgenommen. Auch wenn in den letzten Jahren einige Europa-Abgeordnete verstärkter in der Öffentlichkeit wahrnehmbar sind: Man arbeitet im Raumschiff Brüssel mit dem Gefühl, niemanden zu interessieren und nichts zu bewegen. Das entsprach nicht meinem Anspruch. Wobei ich dort durchaus einiges gelernt habe, zum Bespiel wie extrem direkt Lobbyisten dort arbeiten – viel direkter als im Bundestag.

Wie denn?

In jedem Ausschuss sitzen mehr Lobbyisten als Abgeordnete. Die Kommission selbst sitzt in einem Gebäude mit den Industrie-Verbänden, die sehr direkt alle Papiere bekommen. Schon interessant, wie man selbst auch zum Objekt von Lobbyismus wird: Im Bundestag ist das ja noch relativ moderat. Ich als Fraktionsvorsitzende bekomme immer mal wieder Anfragen, die ich meistens ablehne. In Brüssel, und das beschreibt noch den harmloseren Teil, kann man sich jeden Abend auf Empfängen mit gutem Essen durchfuttern.

Klingt anstrengend.

Es gibt natürlich auch exklusive Einladungen von Chemie-Unternehmen oder Banken in Spitzenrestaurants an Abgeordnete: Während des Luxus-Essens wird dann über die politischen Themen, über Abstimmungen und Richtlinien gesprochen, immer mit dem Angebot, die Abgeordneten mit dem Sachverstand der Lobbyisten zu unterstützen und ihnen gerne zu helfen. Eine unvorstellbare Direktheit, die ich so in Deutschland nie gesehen habe. Und zwar ständig. Die Lobbyisten sind auch darauf geschult: Mir gegenüber traten oft smarte, junge Männer auf.

Man achtete in Richtung potentieller, horizontaler Erfrischungen auf die visuelle Attraktivität der Lobbyisten, die Ihnen Unterstützung anboten?

Das nun nicht gerade. Vor allem gingen sie inhaltlich sehr geschickt vor: Selbst mir als Linke gegenüber betonten sie, wie viel unsere Ansätze doch für sich hätten. Vielleicht könne man einen Richtlinienvorschlag an der einen oder anderen kleinen Stelle noch geringfügig modifizieren und anreichern: Ob man sich das Verbesserungspotential nicht detaillierter miteinander anschauen könne. Die versuchen dort wirklich, Abgeordnete aller Fraktionen einzukaufen. Im Bundestag geschieht das der LINKEN schon alleine deshalb nicht, weil man das scheinbar für völlig sinnlos hält.

Wann haben Sie denn Oskar Lafontaine das erste Mal wahrgenommen?

1990 oder schon vorher. Er war ja überall auf den Plakaten.

Gut, dann hätten wir dieses Thema auch vollumfänglich besprochen. Läuft.

Ich fand ihn 1989 interessant, weil er einer der ganz wenigen war, der nicht in der Wende- Welle mitschwamm, wo alle euphorisch von „Brüdern und Schwestern“ sprachen, sondern sagte, der 1:1-Umtausch sei aus wirtschaftlichen Gründen ein Problem. Er fiel mir auf, weil er aufgrund seiner Überzeugung den Mut hatte, gegen einen mächtigen Strom zu schwimmen und damit in Kauf nahm, auch die Wahl zu verlieren: Sagte man den Leuten im Osten, sie bekämen keinen 1:1 Umtausch, bedeutete dies: Wählt mich nicht! Ich fand das ehrlich und nahm ihn damals mit Sympathie war. Die SPD hätte ich deswegen trotzdem nicht gewählt.

Heute sind Sie miteinander verheiratet: Von Plakaten über Sympathie eine konsequente Verdichtung.

Ich habe mich in ihn verliebt.

In was an ihm denn?

Was liebt man, wenn man liebt? Alles.

Echt?

Ich habe mich ja in einen Mann verliebt, nicht in einen Politiker.

Und wissen Sie denn, was er an Ihnen liebt?

Ich hoffe, auch alles.

Lassen Sie sich das mal patentieren. Entweder ist das eine Entdifferenzierungs-Antwort, oder es ist ein friedensnobelpreisverdächtiges Modell.

Früher dachte ich, ich würde nicht mit einem Mann dauerhaft zusammenleben wollen. Jetzt könnte ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen. Er gibt mir Kraft für die Politik.

Wenn wir schon bei Nähe sind: Finden Sie eigentlich, Angela Merkel sei eine starke Frau?

Sie führt dieses Land seit 12 Jahren: Da kann man nicht sagen, sie sei ein Totalausfall. Sie hat sich erfolgreich an der Macht gehalten. Ich finde allerdings ihre Bilanz negativ, wie sie dieses Land verändert hat. Aber sie ist eine sehr machtbewusste und politisch versierte Frau. Merkel verfolgt schonungslos ihre Interessen und ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, andere beiseite zu räumen. Ganz im Gegensatz zu dem öffentlichen Bild von ihr: Ohnehin frage ich mich bis heute, ob der Titel ‚Mutti‘ nicht von ihren eigenen Leuten kreiert wurde. Er ist genial, weil Merkel alles andere als eine Mutti ist. Sie hat Widersacher in der CDU in einer Art weggebissen, die so gar nichts Muttihaftes hat. Aber ihr öffentliches Image ist: treusorgend für andere. Merkel hat eine große Fähigkeit zu verbergen, wie sie wirklich ist.

Stärke im Sinne meiner Frage ist unabhängig davon, auf welcher Seite des moralischen Spektrums sie wirkt.

Sie ist ja ohne wirkliches Programm angetreten. Ihre Fähigkeit ist eher, sensorisch zu prüfen, um am Ende jene öffentliche Anerkennung zu behalten, die Voraussetzung für den Machterhalt ist. Sie ist sehr flexibel: Ihre Vorstellung davon, wie Deutschland zu verändern ist, hat sie stets schrittweise an den Mainstream angepasst.

Politische Antworten auf Gewalt und terroristische Phänomene gewinnen größere Bedeutung: Wie ist denn Ihre Haltung zum Umgang mit dem Grundkonflikt zwischen dem tiefen Bedürfnis nach Freiheit auf der einen und jenem nach Sicherheit auf der anderen Seite?

Das ist der Balanceakt: Wenn Sicherheit um den Preis einer nicht mehr freien Gesellschaft erreicht wird, ist der Preis zu hoch: Viele Einschränkungen der Freiheit werden mit Sicherheit begründet, obwohl sich bei genauer Betrachtung die Sicherheit nicht erhöht. In den letzten Monaten haben wir eine Reihe von Gesetzen in diese Richtung verabschiedet. Oft mutiert Sicherheit auch zum vorgeschobenen Argument für den Abbau von Freiheit.

Andere Dinge würden die Sicherheit viel mehr erhöhen als Überwachung oder Staatstrojaner. Ich glaube, man kann innere Sicherheit und soziale Sicherheit nicht trennen, das belegen empirisch auch viele Untersuchungen: Werden Gesellschaften zu ungleich, wird Spaltung zu groß, verhalten sich Menschen anders und die Kriminalität steigt. Oder die Außenpolitik: Wären wir an Kriegen nicht beteiligt, wären wir auch nicht Zielscheibe islamistischer Terroristen.

Ihr letzter Satz beschreibt eine Annahme und ignoriert dabei auch ein Bündel unterschiedlicher Gegenabhängigkeiten. Natürlich stimmt der Bezug zwischen sozialer Sicherheit, Spaltung und Kriminalität. Aber in dem Verweis darauf finde ich keine Antwort auf die Frage, was wir denn zum Thema die Sicherheit tun sollten, damit IS-Terroristen mit LKWs nicht in Menschenmengen fahren.

Kriege bringen Leid und Elend, töten Zivilisten und produzieren Hass und neuen Terror statt Frieden. Ich finde, wir sollten aufhören, uns an solchen Kriegen im Nahen und Mittleren Osten zu beteiligen. Dann wären wir auch nicht mehr Zielscheibe von Terror.

Meinen Sie denn innerhalb Ihrer inneren Logik, der IS als ein Beispiel messe das eigene Handeln daran, wer an welchen Kriegen beteiligt sei? Ich habe Zweifel.

Das sagen ja jene, die Anschläge begangen haben. Und der IS entstand aus einem Krieg. Der IS als terroristische Bewegung hatte nur deshalb derartigen Zulauf, weil es Kriege gab mit all der Zerstörung und den toten Zivilisten. Woher sonst bezieht der IS immer wieder Zulauf? Warum sonst gibt es Leute, die sich als Dschihadisten verheizen lassen? Natürlich gibt es Menschen aus dem gehobenen Bürgertum, die den Dschihad als Abenteuer begreifen. Der Kern aber besteht aus Menschen, die keine Perspektive mehr sehen, die Angehörige verloren haben, deren Familien und Heimat zerstört wurden und die dann zum IS gehen, um sich zu rächen.

Ich glaube, es ist mehr und weniger zugleich: Der extreme Fokus einer Identität, die mit simplen Glaubenssätzen Antwort auf alles ist, bildet einen mächtigen Andock-Hafen. Je schwieriger, je hoffnungsloser Umfeld und Erfahrungen – mit diesem Bild wäre ich bei Ihnen – , desto reizvoller sind einfache Antworten, selbst wenn sie jenes Leben kosten, das ohnehin nur noch aus den subjektiv schwierigen Phänomenen besteht. Identifikation also als Attraktivität eines perversen Zuhauses. Ich teile nicht, IS-Member dann plötzlich als vernunftbegabte Erwachsene zu behandeln, die dauerhaft rational den Unterschied machen, wo Rache platziert wird und wo auch nicht. Das unterschätzt die Eigendynamik von Wahnsinn und Machttrieb. Und: Man wird etwas tun müssen für Sicherheit.

Dass dies von Ihnen beschriebene, psychologische Phänomen existiert, würde ich ja nicht bestreiten. Und natürlich muss man etwas tun für die Sicherheit. Man muss nur sehen, dass alle Maßnahmen, erst recht geheimdienstliche, in einem rechtsstaatlichen Rahmen bleiben und Überwachung die Freiheit nicht unangemessen aufhebt.

Ich bin ja mit der DDR in einer Gesellschaft aufgewachsen, wo der Schutz der Privatsphäre einen geringen Stellenwert hatte. So etwas will ich nie wieder haben. Gerade heute, wo neue technische Möglichkeiten Unmengen unserer Daten dem Zugriff von Internet-Konzernen preisgeben, ist ein aktives Eintreten für den Schutz der Privatsphäre notwendig.

Sie selbst nutzen ja, wie Ihr naher Kollege Donald Trump, soziale Medien gerne.

Ich würde Donald Trump nur ungern als Kollegen bezeichnen. Und als nahen schon gar nicht. Facebook nutze ich zum Publizieren: Anders als bei herkömmlichen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien bin ich nicht darauf angewiesen, welche unserer Themen andere bringen wollen. Den undurchsichtigen Facebook-Algorithmus kann ich zwar auch nicht kontrollieren. Aber ich kann zumindest entscheiden, was ich veröffentliche und erreiche bei gut laufenden Posts schnell mal eine bis anderthalb Millionen Menschen. So kritisch ich Facebook als Konzern gegenüberstehe, aus Gründen der Publizität ist die Plattform für mich ein Gewinn. Privat würde ich Facebook nie nutzen und warne Leute auch davor, dort ihr ganzes Leben zu veröffentlichen.

Innerhalb der Mono-Kultur des politischen Systems hier in Berlin: Haben denn politische Hauptstadt-Journalisten als Teil des Betriebes aus Ihrer Sicht in Summe die nötige, professionelle Distanz?

Klar gibt es politische Zusammenhänge und Partei-Loyalitäten auch unter Journalisten. Und natürlich sind Politiker davon abhängig, dass Journalisten gut über sie berichten. Es läuft auch bei der Berichterstattung einiges über informelle Beziehungen. Die Linken sind da ein wenig außen vor: Die Beziehungen sind nicht so eng und über Jahre eingespielt wie beispielsweise bei den Grünen. Obwohl wir Oppositionsführer im Parlament sind, wird über uns immer noch weniger berichtet. Und manchmal merkt man in der Tat, dass Journalisten eben auch Artikel schreiben, weil sie jemandem besonders gut oder weniger gut gesonnen sind. Es sind nicht immer objektive Kriterien, die über Texte entscheiden.

Kennen Sie eigentlich Hass?

Wenig. Als Kind habe ich den Schah und die Mullahs gehasst, weil ich sie dafür verantwortlich gemacht habe, dass mein Vater nicht wieder kam. Würde ich jemanden sehen, der anderen bewusst Schmerzen zufügt, könnte ich mir vorstellen, ihn auch zu hassen.

Verachtung kennen Sie eher?

Natürlich finde ich manche Leute doof und nervig und einige sind mir auch zuwider.

Haben Sie eigentlich jemals über Ihren Tod nachgedacht?

Jemand, der behauptet, darüber nie nachzudenken, lügt, glaube ich.

Wie möchten Sie denn sterben?

Wie ich nicht sterben will, weiß ich: Krankenhaus, Krebs, Siechtum. Und mein Tod? Vielleicht wie ein Mitglied unserer Familie: Er feierte im Kreis der Familie mit einem Glas Sekt in der Hand, fiel um und starb.

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